Ein glückseliges Lächeln zum neuen Jahr
Liebe Leserinnen, liebe Leser
In einem kleinen Dorf irgendwo in den Weiten unseres Landes lebte einmal ein altes Ehepaar. Die beiden haben nahezu ihr ganz Leben auf ein Wunder gewartet, das ihnen ein glückseliges Lächeln zum neuen Jahr ins Gesicht gezaubert hätte.
Ansonsten war ihr Leben in etwa so verlaufen, wie beim überwiegenden Teil der Bevölkerung. Beide hatten ihr ganzes lang Leben hart gearbeitet und waren trotzdem arm geblieben.
Das, was wir umgangssprachlich als die Sonnenseite des Lebens bezeichnen, hatten sie leider nie kennengelernt.
Sie wohnten ganz alleine in einer kleinen und armseligen Wohnung. Es war ein Nebengelass eines ehemaligen Bauernhofes, der bereits mehr als zwei Jahrzehnte außer Betrieb war.
Ihre einzige Tochter war im Alter von gerade einmal 12 Jahren an einem seltenen Fieber erkrankt und kurz darauf verstorben. Der einzige Sohn war nach Amerika ausgewandert, um dort sein Glück zu versuchen. Fünf Jahre später kam die Nachricht, dass er bei einem Zugunglück ums Leben gekommen war. Das war nun schon über dreißig Jahre her.
Besonders in der Zeit um Weihnachten sagte der alte Mann oft sehr traurig zu seiner Frau:
“Bedauerlicherweise waren uns ja nur sehr, sehr wenige Jahre vergönnt, in denen wir alle vier zusammen zur Neujahrsandacht in die Kirche gehen konnten.”
Seine Frau hatte in all den Jahren niemals irgendwelche Worte des Trostes gefunden und konnte ihrem Mann mit Tränen in den Augen lediglich zustimmen.
Nun war wieder einmal der Neujahrstag gekommen.
In der Nacht hatte es ziemlich heftig geschneit. Die ansonsten bereits von außen sichtbare Armut der kleinen Wohnung wurde von dem frischen Schnee bedeckt, der ein herrlich glitzerndes Weiß auf das Dach zauberte. Ach, wie schön wäre es, wenn dieser Tag ein glückseliges Lächeln zum neuen Jahr bei den beiden alten Menschen hervorbringen könnte.
In der Wohnung saßen die alte Frau und ihr Mann und hielten sich gegenseitig die Hände. Mit Wehmut dachten sie an die Zeit gemeinsam mit ihren Kindern. Wieder trauerten sie und es flossen bittere Tränen.
Schon seit einigen Monaten fühlte sich der alte Mann krank, hatte aber bislang nicht darüber gesprochen.
“Ich glaube, dass ich nicht mehr lange leben werde”, sagte er zu seiner Frau.
Diese weinte still, wie seit etlichen mehr oder minder ruhelosen Nächten, denn sie hatte die Veränderung ihres Mannes natürlich bemerkt.
Was würde denn sein, wenn sie ganz alleine mit ihren Erinnerungen leben musste?
Wer könnte ihr dann ein glückseliges Lächeln zum neuen Jahr zaubern?
Wie immer mittags bereitete sie eine spärliche Mahlzeit zu. Zusammen setzten sie sich an den alten Tisch und aßen schweigend. Der Mann sah seine Frau lange an, doch sie wich seinem Blick aus. Er sollte nicht sehen, dass sie schon wieder geweint hatte.
Nach dem Essen sagt der alte Mann:
“Ich bin sehr müde, meine liebe Frau! Ich will mich hinlegen und ein wenig schlafen”.
Seine Frau nickte nur stumm mit dem Kopf. Er legte sich hin und war sehr bald eingeschlafen. Sie betrachtete ihren Mann und liebevolle Erinnerungen stiegen in ihr auf. Das erste Kennenlernen, der erste Kuss und das Versprechen, nie den anderen alleine zu lassen.
Das alles hatten sie in einem Leben voller Entbehrungen erreicht. Reichtum oder Vermögen hatten sie nie kennengelernt, aber sie wussten ganz genau, was Liebe bedeutete.
Der Mann schlief sehr lange und draußen begann es schon zu dämmern.
“Nun werden wir wohl in diesem Jahr nicht mehr zur Neujahrsandacht gehen”, sagte die Frau leise. So schloss sie ihre Augen, faltete die Hände und sprach ein kurzes Gebet.
Als sie die Augen nach einer Zeit wieder öffnete, bemerkte sie, dass es im Raum eigenartig hell war. Ein Lichtstrahl fiel durchs Fenster und erleuchtete die armselige Stube. Doch er strahlte so hell, dass es nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Die Frau weckte ihren Mann. Auch er sah erschrocken in das Licht.
“Was geht da bloß vor sich?”, stammelte er bestürzt.
Die alten Leute fassten einander an den Händen.
In diesem Moment klopfte etwas leise an die Türe.
“Mach’ nicht auf!”, flüsterte die Frau, die beinahe zu Tode erschrocken war.“ Ich glaube nicht, dass uns da draußen etwas Gutes erwartet”, sprach sie weiter.
“Das ist schon in Ordnung, liebe Frau”, antwortete der Mann, “wir öffnen die Türe nicht!”
Da klopfen es ebenso leise noch ein weiteres Mal.
“Vielleicht ist jemand in Not”, sprach der Mann, “dann ist es unsere Pflicht zu helfen!”
Obwohl ihn seine Frau davon abhielt, ging der Mann zur Tür. Noch einmal erklang das Klopfen. Da öffnete er ganz langsam die Türe und erstarrte beinahe. Im dichten Schneegestöber standen zwei junge Menschen und lächelten den alten Mann an.
“Ein frohes Neues Jahr, Vater!”, sagte der junge Mann.
Er ging auf seinen erschrockenen alten Herrn zu und drückte ihm herzlich die Hand.
“Auch von mir alles Gute zum neuen Jahr, lieber Vater!”, sagte nun auch das junge Mädchen und umarmte ebenfalls ihren Vater.
“Seid ihr es wirklich, meine Kinder? Oh mein Gott! Ich…”, stammelte der alte Mann.
Er fiel vor seinen Kindern im Schnee auf die Knie. Tränen liefen über seine Wangen und er war nicht mehr in der Lage weiterzusprechen.
Behutsam hob der Sohn seinen Vater auf.
“Lasst uns bitte reingehen,” sagte der junge Mann, “wir wollen doch die Mutter begrüßen!”
Die alte Frau hatte schon Sorge, was da draußen wohl geschehen sei. Doch als ihre Kinder mit dem Vater in die Stube traten, sank sie auf die Bank und wurde kreidebleich.
“Ihr seid gekommen?”, flüsterte sie tonlos.
Doch da waren ihre Kinder schon auf sie zugeeilt und umarmten sie. Die alte Frau weinte und lachte und wusste überhaupt nicht wie ihr geschah.
Nachdem die erste Wiedersehensfreude sich etwas gelegt hatte, setzten sich alle auf die alte Eckbank und der Sohn begann zu erzählen:
“Meine Schwester und ich haben schon so viele Jahre Euer Leid gesehen. Bislang war es uns nicht möglich, noch einmal zu Euch zurückzukehren. Da der Vater nicht mehr lange zu leben hat, haben wir die Erlaubnis erhalten, noch einmal gemeinsam das Neue Jahr zu feiern.”
“Wer hat es Euch erlaubt?”, fragte der Vater, obwohl er die Antwort kannte.
“Ihr werdet ihn bald kennenlernen”, sagte die Tochter, “er war es, der mich damals so unsagbar getröstet hat, als ich von Euch gehen musste!”
Und dann berichteten die beiden ihren Eltern ganz ausführlich von der Herrlichkeit, den himmlischen Chören der Engel und von dem ewigen Licht.
Noch einmal saß die Familie zusammen und feierte das neue Jahr.
So eine große Freude hatte es in der kleinen Wohnung schon lange nicht mehr gegeben.
Als es Mitternacht geworden war, fragte die alte Frau:
“Könnt Ihr denn bitte noch eine Weile bei uns bleiben? Es wäre so schön, Euch in dieser so seligen Nacht bei uns zu wissen!”
“Natürlich, liebe Mutter”, antwortete das Mädchen mit sanfter Stimme, “wir werden uns jetzt nie mehr trennen”.
Mit diesem wundervollen Gedanken legten sie sich schlafen. Als die alten Leute in ihrem Bett lagen, nahmen sie sich bei der Hand. Seit über dreißig Jahren waren sie nicht mehr mit so einem leichten und freudigen Herzen eingeschlafen.
Am 5. Januar brachen Beamte die Tür der kleinen Wohnung auf. Seit Tagen hatte niemand mehr die alten Leute gesehen und die anderen Dorfbewohner hatten Schlimmes befürchtet.
Als die Beamten eintraten, fanden sie den alten Mann und seine geliebte Frau tot im Bett liegen. Noch immer hielten sie sich an den Händen und ein seliges Lächeln lag auf den Gesichtern der beiden Verstorbenen.
Es war das glückselige Lächeln zum neuen Jahr, auf welches sie so viele Jahre gewartet hatten.
Niemand konnte ahnen, dass die beiden alten Menschen endlich wieder selig mit ihren Kindern vereint und frohen Herzens in die Herrlichkeit eingegangen waren.
Und was ist die Moral von der Geschicht?
„Man kann im Laufe seines Lebens viele Dinge verlieren, aber die Hoffnung bitte nicht!
Wie auch immer Ihr Euch gerade fühlt und wo auch immer Ihr gerade seid, ich wünsche euch von Herzen gerne eine gesunde & fröhliche Zeit rund um den Jahreswechsel.
Euer „alter“ Mann
Werner Michael Heus
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